Russland: Zurück in die technologische Vergangenheit?

Ein relevantes ökonomisches Thema wird von Branko Milanovic aufgeworfen: Wie schafft Russland eine technologisch rückwärts gewandte Importsubstitution – als Folge seiner wirtschaftlichen Isolation?

Importsubstitution war seit Alexander Hamilton und Friedrich List immer wieder für die nachholende Entwicklung von Volkswirtschaften eingesetztes Instrument: Hohe Zollschranken sollen ermöglichen, Güter, die bislang importiert werden, nunmehr im eigenen Lande zu produzieren. Diese Politik wurde von Ländern wie der USA, Deutschland, Japan und Russland angewandt, um ihren technologischen Rückstand gegenüber den führenden Industrienationen aufzuholen.

Für Russland stellt sich aus Sicht von Milanovic das Problem völlig anders dar: Es konnte in den letzten 30 Jahren viele Technologieprodukte importieren, die es in der Sowjetunion zuvor nicht gab, vor allem im Tausch für fossile Brennstoffe, andere Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte.


Milanovic stellt hier die These auf, dass Russland infolge eines umfassenden Embargos versuchen wird, die alten sowjetischen Technologien zu reaktivieren, um autark wirtschaften zu können.

Als Beispiel führt er den Plan des russischen Verkehrsministeriums an, die Produktion russischer Verkehrsflugzeuge von 18 Stück im Jahr 2022 auf knapp 200 Stück im Jahr 2030 hochzufahren – weil befürchtet wird, in Zukunft keine Ersatzteile mehr für die in Betrieb befindlichen Flugzeugflotte ausländischer Produktion zu bekommen, geschweige den neue Flugzeuge von Airbus und Boeing. Für diese rückwärtsgewandte Technologieentwicklung seien die russischen Ingenieure heute aber eher überqualifiziert, da seit 1990 in den Sektor der Informationstechnologien abwanderten – und nun im Luft- und Raumfahrtsektor fehlen.

Kommentar

  1. Branko Milanovic entwirft hier ein Szenario, das für die Russische Föderation durchaus bedeutsam werden könnte, wenn die westliche Unterstützerallianz der ukrainischen Regierung ihre Drohung mit einem mittel- oder langfristigen Totalembargo der russischen Wirtschaft ernst machen würde.
  2. Dieses Szenario erinnert an den Morgenthau-Plan, mit dem das besiegte Hitler-Deutschland in einen Agrarstaat zurück verwandelt worden wäre, um keine militärische Bedrohung mehr für seine europäischen Nachbarn darzustellen.
  3. Bekanntlich wurde der Morgenthau-Plan und die damit verbundenen umfassende Demontage der modernen Industrieanlagen in den Westsektoren nicht realisiert, sondern Westdeutschland zügig in den Weltmarkt integriert.
  4. Dieser Vergleich gibt zu denken, ob eine mittelfristige wirtschaftliche Isolation Russlands nach dem Ende des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wirklich die sinnvollste Option wäre. Nordkorea kann als Beispiel dafür gelten, dass auch ein Land mit nur mittelmäßigen Technologien eine ernsthafte Bedrohung für seine Nachbarn darstellen kann.
  5. Daher sind neben einem Morgenthau-Plan 2.0 durchaus andere Optionen, vor allem in Richtung auf die wirtschaftliche Re-Integration Russlands in die Weltwirtschaft nach dem Kriegsende auf klimaneutraler Grundlage zu erwägen.

Milanovic, Branko. 2022. „Ein noch nie dagewesenes Experiment.“ Makronom, 2. Mai 2022. https://makronom.de/ein-noch-nie-dagewesenes-experiment-41730.


Milanovic, Branko. 2022. „The novelty of technologically regressive import substitution.“
https://glineq.blogspot.com/2022/04/the-novelty-of-technologically.html.

Abdullina, Ajgul‘. 2022. „Стадия окрыления – Минтранс разработал стратегию авиаотрасли до 2030 года – Газета «Коммерсантъ» – Коммерсантъ: последние новости России и мира.“ Kommersant‘, 28. April 2022. https://www.kommersant.ru/doc/5329222.

Ekaterina Schulmann: „Das Stichwort Geopolitik ist so eine besonders infektiöse Ketzerei.“

„Das Stichwort Geopolitik ist so eine besonders infektiöse Ketzerei. Sie ist nichts anderes als die Verherrlichung der Geografie auf Kosten der Geschichte. Sie besagt, dass die geografische Lage eines Landes sein unabänderliches Schicksal sei. Russland also ist ein großes Land voller Ressourcen, um die es jeder beneidet. Es kann keine Demokratie sein, weil es so groß und kalt ist. Wenn ich diese These höre, frage ich immer: Und was ist mit Kanada?“

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/was-haben-wir-uebersehen-russische-politologin-ekaterina-schulmann-im-interview

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